Wieder einmal habe ich die toten oder sterbenden Bäume entlang der Straßen gezählt. Nicht nur die Kastanien sind es, denen die Miniermotte zu schaffen macht, genauso trifft es Eichen, Ahörner und Hainbuchen. Es werden immer mehr. Die alten Bäume, die die Hitze und Trockenheit besser überstehen, werden von Baumexperten regelmäßig überprüft und verschiedenen Belastungstests unterzogen. Danach werden sie sicherheitshalber umgeschnitten, da niemand an etwas schuld sein will, aber immer jemand schuld sein muss. Dann werden neue gepflanzt, oft zu unmöglichen Zeitpunkten. Die, die überleben, werden in den folgenden Jahren von den Gemeindegärtnern, die allesamt keine sind, auf das Gröbste misshandelt. Um einen Baum zu schneiden, braucht es Wissen und Gefühl. Beides fehlt. So ist das in unserem Ort und in vielen anderen sicher auch. Gestern wurde in meiner Straße alles gemäht. Jetzt stehen braune Bäume in braunem, verbranntem Gras. Vorher blühten hier Schafgarben, kleine gelbe Korbblütler und verschiedene Kleearten. Ich werde vorschlagen, nur mehr einen schmalen Streifen an der Straße, den Gehsteigen und den Hauseinfahrten zu mähen. Das gäbe ein wenig Struktur und ließe die Blumen blühen, die alle angeblich so lieben. Außerdem könnte man sich dann stattdessen mit etwas anderem beschäftigen. Vermutlich steht dem ein grundsätzliches Missverstehen der Welt gegenüber, das seinen Ausdruck in Ordnung und Kontrolle findet. Bisher war ich immer optimistisch, dass der Erfindungsreichtum der Natur und des menschlichen Bewusstseins, Wege findet, diese Welt als einigermaßen lebenswerten Ort zu erhalten. Jetzt bin ich das nicht. Die längste Hitzeperiode, die höchste jemals gemessenen Anzahl an Tropennächten, der geringste Niederschlag seit 100 Jahren, die größte Regenmenge in kürzester Zeit, die geringste Anzahl an Mehlschwalben, Rückgang der Insekten um 70%. Kaum ein Monat und schon gar kein Jahr, ohne derartige Meldungen. Alle kennen sie und trotzdem fahren die Rasenmäher und Laubgebläse über alles, das noch ein wenig Leben enthält. Mir fehlen heuer die großen blauschwarzen Holzbienen und auch die Taubenschwänzchen, die wie Kolibris von Blüte zu Blüte fliegen. In den Jahren davor waren sie immer im Garten. Ebenso Schwalbenschwanz und Segelfalter. Von den vielen Fledermäusen sind nur wenige geblieben. Mein Garten ist groß und lässt viel ungestörten Platz, der Wald ist gerade einmal 100 Meter entfernt. Trotzdem. Die Erinnerung muss nicht durch viele Jahre führen, um vieles ganz anders vorzufinden.
Früher kamen die Tiere aus der Landschaft in die Gärten, seltene überraschende Besucher, die sich bald wieder auf den Weg nach draußen machten. Es gab genügend Gebüsche und Hecken und in den Weingärten viele Obstbäume. Vor dreißig Jahren war ihr Verschwinden absehbar, wir haben uns aufgeregt und versucht, etwas dagegen zu unternehmen. Belächelte Versuche, die bald im Sand verlaufen sind. Jetzt sind sie nahezu zur Gänze verschwunden, die Gebüsche, Hecken und Bäume und niemand regt sich mehr auf. Die Landschaft vor meinem Fenster kann man immer noch als schön empfinden, doch sie ist tot. Eine Landschaftsindustrie hat bis in die letzten Winkel Ordnung geschaffen und nebenbei ganze Landstriche nahezu von Leben befreit. Die letzten Reste dienen der Unterhaltung oder Erholung und müssen über irgendwelche Umwege Rentabilität beweisen, wenn nicht Schilder das Betreten verbieten und jedes Erleben und Erfahren verhindern.
Aus ängstlichen, ehrfürchtigen Duldern sind wir zu arroganten Narzissten geworden und jeder einzelne Schritt hat genau dahin geführt. Die Angst ist geblieben, die Ehrfurcht verschwunden.
Natur und Heimat haben auf die scheinheiligste Weise zusammengefunden. Kaum eine Werbung und schon gar kein Wahlplakat kommen ohne sie aus. Hochgehalten wird ein Schein, der in Wirklichkeit ein Kadaver ist, mit dem man sich gegen jegliches Außen verteidigt. Außen ist dort, wo das Leben ist, innen ist Angst und Kleinlichkeit. Und noch viel Schlimmeres.
All die Regelungen, Gesetze, Normen, Begutachtungen und Umweltverträglichkeitsprüfungen, die jetzt wohl auch noch abgeschafft werden, das brave Müll trennen, das Recycling, die unendlichen Regeln für jede Art der Deponie, die Bauverordnungen mit all ihren Geboten, die Verordnungen für jeglichen Eingriff in die Landschaft und selbst in die Gärten, die Aufnahme der lebenden Welt in irgendwelche Kataster, nichts davon hat dazu beigetragen, eine wilde Vielfalt zu fördern, bestenfalls marginale Reste davon mit weiteren Regeln und Gesetzen zu erhalten.
Das Wilde war schon immer der Feind der Menschen. Bloß wenn wir es in diesem Ausmaß bekämpfen, berauben wir uns selbst jeglicher Grundlage. Ein Paradoxon, allem Wissen und allen Erkenntnissen zum Trotz.
Als Gärtner waren wir Jahrhunderte lang damit beschäftigt, das Wilde vom Garten fernzuhalten. Außen war genug davon. Nun ist außen fast nichts mehr. Was also machen wir jetzt? Ersticken wir den Garten mit Architektur und geben uns dafür her, jegliche Sukzession und Entwicklung möglichst zu unterdrücken? Damit alles so bleibt, wie es gemacht wurde und niemand Angst haben muss, selbständig zu werden und das Leben besser zu verstehen?
Oder widmen wir uns der Aufgabe, das Leben zu verstehen – oft genug intuitiv, da wir zu wenig wissen, doch beides wächst aneinander – , und das Wilde, Lebendige, sich Entwickelnde, in die Gärten zu bringen?
An den Wünschen der Kunden merkt man, wie sehr das Interesse daran in den letzten Jahren gewachsen ist. Die Gelassenheit im Umgang mit natürlichen Prozessen hat sich nicht im selben Umfang entwickelt. Im Naturgarten erhält das Wilde einen kleinen Platz. Das Eck mit den Brennnesseln, meist dort, wo man sie nicht sieht, ein Laubhaufen für die Igel, ein Kompost, in dem man eine Blindschleiche findet, wenn man ihn wendet, Gifte sind verpönt und der Dünger organischen Ursprungs. Gemüse, Obst und Kräuter haben wieder Einzug gehalten und mit berechtigter Freude und Stolz werden die eigenen Produkte verkocht, Rezepte und Pflanzen getauscht.
Ist uns Gärtnern das genug? Bleibt der Garten, bevor er sich noch geöffnet hat, ein Hortus clusus, ein Ort, in dem sich Sehnsüchte auf eine Weise erfüllen, die gleichzeitig den Blick nach Außen verhindern?
Wenn der Garten einst ein eingefriedetes kleines Stück Land war, das vor der Wildnis beschützt wurde, so ist er heute etwas, in dem ein winziger Rest dieser Wildnis beschützt werden kann. Ein Rest, in dem das Gewissen und die Ohnmacht verborgen sind.
Noch nie gab so viele Umweltauflagen und Gesetzte, Förderungen und Kontrollen aller Art, ein rasantes Wachstum von biologischen Betrieben, ein hohes Umweltbewusstsein vieler Menschen und so viele naturnahe Gärten. Trotzdem, das so rasche Verschwinden der Vögel, Insekten und Amphibien kommt den Auswirkungen des Meteoriteneinschlages am Ende der Kreidezeit gleich. Es war damals längere Zeit recht unwirtlich. Das Leben ging aber weiter. Allerdings ohne den Hauptprotagonisten davor, obwohl die damals überhaupt nichts dafür konnten.